Theatralische Persönlichkeitsbildung

14. Januar 2014, 13:40 Uhr,

Wenn die Jugend nicht oder zu selten ins Theater kommt, kommt eben das Theater in die Schulen. Mathias Schulze über interessante Projekte an einer mitteldeutschen Oberschule.


Theatralische Persönlichkeitsbildung

Seit September fahren Theaterpädagogen des Theaters der Jungen Welt (TdJW) jede Woche ins südliche Leipziger Umland, nach Kitzscher. Dort befindet sich eine Oberschule. Das Projekt „Stadt – Land – Spielfluss“ soll alle Klassenstufen und dabei rund 190 Schüler anleiten. Und zwar zum Theatersehen und – spielen. Eine Reportage von Mathias Schulze.

 

Anfang Dezember ist es in Leipzig nasskalt und windig. Simone Neubauer und David Schönherr, zwei Theaterpädagogen, die regelmäßig nach Kitzscher fahren, sind dem Wetter entsprechend gekleidet: „Hier ist es stürmisch, dort wird es laut.“  Neubauer und Schönherr tragen nichts Fertiges aufs Land, sondern sie entwickeln derzeit an der dortigen Oberschule Theaterstücke. Und zwar gemeinsam mit den Schülern. Das Ganze ist ein Modellprojekt, es nennt sich „Stadt – Land – Spielfluss“, ist über mehrere Jahre angelegt und soll schrittweise alle Klassenstufen einbinden. Die Stücke sollen erzählen von den Träumen und Wünschen der Schüler: Was mache ich, wenn ich groß bin? Was mache ich, wenn ich Geld habe? Die Ergebnisse werden am 15. Juli uraufgeführt, einen ersten Einblick in Form einer Präsentation gibt es am 31. Januar im Rahmen der offenen Tür in Kitzscher. Insgesamt stellt die Zusammenarbeit ein Wagnis dar.

 

Während die Deutschlehrerin Piehl im lautstarken Schultumult das Einzelgespräch sucht, erklärt Schönherr: „Am Anfang waren wir alle überfordert. Wie organisiert man das? Wir haben zunächst einmal Gruppen gebildet.“ Hier bauen die Jungs Requisiten, hier übt man gemeinsam den Text, dort wird gespielt. Und immer müssen die Schüler der fünften und sechsten Klasse reflektieren. Was machen wir gerade? Welche Haltung drückt diese Gestik, welche Meinung diese Mimik aus?

Manche hatten mit den Freiräumen, die ihnen gestattet werden, Schwierigkeiten. Es geht nicht darum etwas richtig zu machen, es gibt keine Zensur. Die Phantasie soll beflügelt werden. „Wir möchten nicht zu viel anleiten, viele sind es gewohnt, dass Erwachsene pädagogisch sind. Dabei wollen wir das gar nicht, die Kinder sollen sich ausprobieren. Wir achten vor allem auf den Rahmen.“, so Neubauer.

 

Das Theater arbeitet bereits zum zweiten Mal im Leipziger Umland. 2011 hat es in Wurzen, Ende September auch schon in Kitzscher einen Theatertag gegeben. Für Jürgen Zielinski, Intendant des TdJW, sind diese Projekte ein „wichtiger und zeichenhafter Schritt im Sinne unserer Verantwortung für die kulturelle Bildung in der Region.“ Theaterschauen und Theatermachen, beides bedingt einander und gehört zusammen. Begrifflich lässt sich das Erlernte auch mit sozialer Weiterbildung beschreiben. Es geht um anthropologische Grundbedürfnisse, um die Auseinandersetzung mit der Realität, um das Sich-Ausdrücken-Können. Piehl erkennt schon nach drei Monaten Veränderungen: „Die Schüler merken gar nicht, dass sie etwas lernen. Ich stelle im Unterricht, beispielsweise bei Vorträgen, fest, dass manche anfangen selbstbewusster mit der Sprache zu spielen. Einige sind im Unterricht so still und blühen hier richtig auf.“

 

Die 10-jährige Annika (Name geändert) beschreibt ihre Erfahrungen so: „Wir können durch unsere Gesichtszüge gut und böse spielen. Ich habe durchs Theaterspielen eine Freundin gefunden. Wir spielen das auch zu Hause, da denken wir uns was aus. So machen das die Profis auch.“ Nicht alle wollen auf der Bühne stehen, aber für jeden findet sich eine Aufgabe. Die Jungs aus der Requisiten-Baugruppe stellen sich sofort Arm in Arm auf und sprechen davon, dass sie nur gemeinsam das Bühnenbild entwerfen können.

Der Schulleiter Rainer Reichenbach betont auch den Lerneffekt bei den Lehrern: „Arbeiten die Kinder selbst, müssen wir uns auch einmal zurücknehmen. Dieses Projekt ist eine große Herausforderung und birgt große Chancen. Auch das Lehrerkollektiv lernt sich hier neu kennen.“

 

Die Persönlichkeitsbildung aller steht im Vordergrund. Wie wird der Körper und wie die Sprache benutzt? Wie baut man Spannungen auf? Welchen Rhythmus braucht es für welchen Zweck? Wie konstruiert man einen Sinn? Ganzheitliche Kernkompetenzen, die fernab von beruflichen Spezialisierungen, fundamental sind, werden geschult. Für Zielinski müsste sogar Theater als Schulfach angeboten werden, er betont: „In so einem Projekt geht es nicht um Fakten. Die Art und Weise des Lernens orientiert sich nicht an einem konkreten Ergebnis. Die Schüler lernen sich selbst als Handelnde zu verstehen, können sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst werden und sehen, dass viele Wege zu Erkenntnissen führen. Im Theaterspiel begreift man Andere, muss auf sie eingehen.“

 

Die Kinder spüren das Besondere. Eine Schülerin musste lange getröstet werden, sie kann im Sommer bei den Aufführungen nicht dabei sein. Schon jetzt prägt dieser Theaterkurs das Leben der Schüler, schon jetzt spüren sie die Lust, die eine spielerische Aneignung der Welt bietet. Schon jetzt sind sie begeistert von der Auseinandersetzung mit sich selbst. In Kitzscher wird die Persönlichkeit gebildet. Und zwar durch Vermittlung von Theaterkenntnissen. Nicht mehr, nicht weniger.


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