1 Woche im Juni, oder von sozialen Netzwerken im Katastrophenfall

28. Juni 2013, 12:03 Uhr,

Wenn die Existenz bedroht ist, die Natur Ihre Muskeln spielen lässt und Hilfe dringend nötig wird: Leipzig hilft!


1 Woche im Juni, oder von sozialen Netzwerken im Katastrophenfall

Facebook als größtes und bekanntestes soziales Netzwerk hat(te) einen schlechten Leumund. Von Politik, Datenschützern und Presse wurde es wieder und wieder zerrissen. Man denke an die „berühmten“ Facebook-Partys, über welche man so schön wettern konnte, mit denen sich aber gleichzeitig wunderbar Auflage unters Volk bringen ließ. Gern „genommen“ und immer wieder ausgeschlachtet wurde auch das Thema Datenschutz, Empörung und reichlich Leserkommentare inklusive. Bespitzelung, Mobbing, Betrug, Eingriff in die Privatsphäre, der Aufreger gab und gibt es viele. Skandale, Fehler anderer oder Schlagwörter wie „Datenkralle Facebook“ verkaufen sich ganz wunderbar, man habe es ja schon immer gesagt, Facebook ist „böse“, zu nichts nutze, bestenfalls störend oder mit sinnfreiem Inhalt (über)gefüllt. Ich unterlasse es hier, mich in diese Diskussionen einzuklinken und erneut die bekannten Argumente darzulegen. Stattdessen möchte ich an einem guten Beispiel zeigen, welch positive Effekte und Möglichkeiten einem Facebook bieten kann. Soziales Verhalten, einander unterstützen, gemeinsam etwas anpacken, Kontakte knüpfen und Netzwerke aufbauen, darum geht es.

 

Hochwasser 2013. Nur 11 Jahre nach dem „Jahrhunderthochwasser“ sorgten erneut unglückliche Wetterumstände, planerische Fehlentscheidungen und die Überraschung, wie schnell solch ein Jahrhundert doch vorbeigehen kann, für eine länderübergreifende Katastrophe. Im Gegensatz zu 2002 ist diesmal ein wesentlich größeres Gebiet betroffen und so sorgte man an Elbe, Mulde, Saale, Donau und vielen kleineren Flüssen und Bächen gleichermaßen um den Verlust von Haus, Hof, Geschäft oder der blanken Existenz. Während sich das Wasser die großen Ströme, oder die welche plötzlich dazu wurden, herunterwälzte, wurde immer mehr Menschen, vor allem aber auch Hilfsdiensten, Krisenstäben, Stadtverwaltungen und Landesregierungen bewusst, dass man nicht mehr nur an lokalen oder regionalen Brennpunkten etwas tun musste, sondern an gleichzeitig an hunderten Kilometern Flusslauf und in dutzenden Ortschaften gleichzeitig „brannte“.

 

Die „Fluterfahrenen“ Mitarbeiter von THW, Feuerwehr, Polizei, dem Roten Kreuz, Bundeswehr usw. taten Ihr Bestes, verstärkten Dämme, evakuierten Personen, fuhren Streife, sorgten für Absperrungen, Umleitungen, Nachschub, räumten Schäden. Allein, überall zu sein ist schlicht unmöglich und auch die Mittel z.B. einer kleinen Freiwilligen Ortsfeuerwehr sind nun einmal begrenzt. Oftmals konzentrierte man sich auf Brennpunkte, größere Orte, oftmals auf Namen, die schon damals in aller Munde waren. Dresden, Grimma, Meißen, auch Halle, Magdeburg, Zwickau etc. las man oft in den Medien, sah Fernsehteams vor Ort. Und natürlich packten dort wie anderswo entschlossene Bürger an, unterstützten die Profis wo sie nur konnten. Doch etwas war anders als noch 2002. Soziale Netzwerke hatten Ihren Siegeszug angetreten, jeder 3. Deutsche nutzt Facebook, vielfach auch Twitter, Google+, YouTube. Ebenso entscheidend ist, dass Handys zum Alltag gehören, man prüft beim Wohnungsverlassen ganz selbstverständlich, ob neben Schlüssel und Portemonnaie das Mobiltelefon dabei ist. Smartphones erlauben es uns nicht nur permanent online zu sein, sie stellen gleichzeitig unser mobiles Büro dar, gestatten Information und Kommunikation rund um die Uhr. Umstände, die dazu beigetragen haben, stets zu wissen, wann, wo, welcher Pegelstand herrscht, welche Straßen gesperrt und welche Gebiete gefährdet sind. Anwohner konnte so reagieren, evtl. doch noch etwas in Sicherheit bringen, Verkehr effektiver gelenkt und Abstimmungen schneller vorgenommen werden.

 

Viel entscheidender ist jedoch, dass sich auf diese Art nicht nur die Profis abstimmten, sondern auch ganz normale Bürger hellhörig und selbst aktiv wurden. Man verabredete sich unkompliziert, lotste einander zu den Treffpunkten und organisierte unkonventionell und „inoffiziell“ Helfer, Material und Aktionen. Clevere Mitmenschen richteten online Pinnwände, Foren oder Webseiten ein, auf denen man Hilfsgesuche und –angebote veröffentlichen konnte. Vielmehr als diese ersten Versuche wurden jedoch Fanpages bei Facebook angenommen. Deren Nutzerzahlen schnellten in wenigen Stunden und Tagen rasant in die Höhe und erreichten Werte, von der jede Werbeagentur nur träumen kann. Es zeigte sich, hier hatte man eine Plattform gefunden, die ideal dazu geeignet ist, um Betroffene, Helfende, Unterstützer und Informationssuchende zusammenzubringen. Auch jetzt, nachdem das Wasser vielerorts zurückgegangen ist und aufräumen, entrümpeln, renovieren auf dem Plan steht, nutzt man weiterhin die entstandenen Communitys, pflegt neue Freundschaften und gewinnt täglich neue hinzu.

 

Allen Initiativen war und ist der selbstlose uneigennützige Hilfsgedanke oberstes Gebot. Selten sind die Initiatoren namentlich bekannt und selbst wenn, möchten sie gar nicht groß gefeiert werden, sondern sehen das, was sie angestoßen, wobei sie führend geholfen haben, als Selbstverständlichkeit in Zeiten der Not an. Nicht anders sieht man es bei „Leipzig hilft!“, bei welchen ich die Gelegenheit bekam, Initiatoren und Mitwirkende zu befragen. Wir trafen uns im Stadtpflanzer-Hauptquartier im Chausseehaus Leipzig, welches zwar ungeplant aber sinnvoller Weise zum Zentrallager, Startpunkt aller Touren, Telefonknotenpunkt und Organisationsbüro der Gemeinschaft wurde. Noch immer stapeln sich viele Sachspenden und Getränkekisten und lassen erahnen, wie es hier Anfang Juni aussah. Im Folgenden versuche ich die Woche vom 3. Bis 9. Juni aus den Worten der Beteiligten wiederzugeben. Evtl. auftretende kleinere Fehlerchen möge man mir verzeihen.

 

Montag, 3. Juni

Das Hochwasser bedrohte Leipzig. An der Brückenstraße in Leipzig-Großzschocher befüllten und stapelten fleißige Helfer Sandsack und Sandsack um den Damm stabil und die Weiße Elster im Zaum zu halten. Doch so richtig und wichtig die Hilfe auch war, es ging chaotisch zu, fehlte an Organisation, vor allem an Verpflegung. Mit dieser Erkenntnis vor Augen fassen 2 Leipziger unabhängig voneinander den Plan, etwas zu tun, den Helfenden zu helfen. Ein Problem zu erkennen und nicht darüber zu reden, sondern sofort etwas dagegen zu tun, das zeichnet die Beiden aus. Also fährt man los, spricht Spätdienste an, bekommt wie selbstverständlich und kostenfrei erste Lebensmittel und Getränke von „Onkel Toms Hütte“ der „Schatzinsel“ oder auch dem Wendl Bäcker, welcher 500 Brötchen sponsert. Man schmiert Brötchen, organisiert sich Fahrer und zieht mit einem alten Feuerwehrauto und einem kleinen Wohnmobil los. An der Brückenstraße is(s)t man begeistert, alles Mitgebrachte ist schnell alle und so geht die Verpflegung bis tief in die Nacht weiter.

 

Dienstag, 4. Juni

Noch am Vortag hatte man sich an die Leipziger Internetzeitung gewandt und auch bei Facebook um Hilfe gebeten. Schnell finden sich weitere Helfer ein und so startet man nach dem Einsammeln von Essen+ Trinken am nächsten im Dutzend Richtung Bad Dürrenberg-Fährendorf. Eine Leipziger Apotheke sorgt mit ihrer Spende von 300€ für gefüllte Tanks, kleine Händler und der örtliche KONSUM für gefüllte Ladeflächen und Kofferräume. Nach dem Aufbau des Versorgungsstützpunktes fährt man zum Kieswerk Kleinpösna, lädt Sandsäcke auf und überschreitet dabei sicherlich die zulässige Höchstlast. Aber wie wichtig ist solch eine Festlegung schon, wenn es ums Ganze geht? Inzwischen mutieren die Stadtpflanzer-Räumlichkeiten immer mehr zur Zentrale. Ein fester Telefondienst wird eingerichtet, um sowohl Hilfswillige, Spender, als auch erste Krisenstäbe anzugehen, erreichbar zu sein. Sehr negativ stößt auf, dass teils unverschämte Preise für Schutzhandschuhe, Stiefel, Arbeitsmittel verlangt werden. Es gibt eben leider Menschen, die auch in solchen Situationen Gewinn auf Kosten anderer machen.

 

Mittwoch, 5. Juni

Mittwochmorgen zog die Karawane, welche mittlerweile aus dem Wohnmobil, der Feuerwehr und 6 PKW bestand, erneut nach Bad Dürrenberg. Kaum eingetroffen kam von der Feuerwehr Halle die dringende Bitte um Unterstützung. Also wurde zusammengepackt und die Großstadt angesteuert. Die beschriebenen Bedingungen erwiesen sich aber nicht als richtig, denn im Gegensatz zu vielen anderen Orten herrschten regelrechte Luxusbedingungen vor. Unterbringung und Versorgung waren vorbildlich organisiert und mehr als genug Reserven vorhanden. Da man es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eben dort einzuspringen, wo Not herrschte, hielten sich die Helfer gar nicht damit auf, hier aktiv zu werden, sondern ließ sich von der Katastrophenzentrale in Halle zu heikleren Punkten schicken. 40 Leute schmierten erneut den ganzen Abend Brötchen, verteilten Getränke und kümmerten sich um erschöpfte Helfer.

Auch die Telefonzentrale, die l-iz und natürlich via Facebook war man nicht untätig geblieben und ging dazu über aus einer 4 Sammelstellen zu machen. Unterstützung kam nun auch z.B. von Kaufland, hingegen lehnte man bei Globus Leipzig dankend ab, als Hilfe erbeten wurde.

 

Donnerstag+Freitag 6.+7. Juni

Früh am Morgen fand man zurück nach Leipzig. Bereits am Vormittag wurde ein kleinerer Konvoi nach Zeitz entsandt um einen Versorgungsstützpunkt aufzubauen. Man fuhr diverse Orte ab, schaute hier und da nach dem Rechten und half, u.a. in Colditz. Mittlerweile lief die Versorgung mit Hilfsgütern stabil. Die Leipziger Wohnungsgenossenschaft VLW brachte sich mit 500 € Spende ein, der Autoverleih Mau stellte 2 Transporter, die Heilsarmee einen weiteren kostenfrei zur Verfügung. Man organisierte eine Gulaschkanone der Bundeswehr und somit auch wärmenden Eintopf „im Angebot“. Die Dimensionen werden klarer wenn man sich vor Augen führt, dass allein an diesem Tag bei LIDL 2400 Scheiben Aufschnitt gekauft wurden. Auch in der Telefonzentrale ging es hoch her, bis morgens 4 Uhr blieb man im Gespräch mit Krisenstäben. Die Feldküche, als mobile Küche für unterwegs pendelte täglich zwischen mehreren Orten und brachte die ambitionierten Hobbyköche mit 440 Portionen ganz schön ins Schwitzen. Alphatec sponserte Technik wie Taschenlampen, Headsets, Batterien usw., auch andere örtliche Unternehmen stellten Arbeitsmaterialien bereit.

 

Samstag, 8. Juni

Als 3:30 Uhr ein Hilferuf aus Dautzschen (bei Torgau) einging, rechnete noch Niemand damit, dass dies der bisher härteste Einsatz werden würde. Das (sächsische) Krisenzentrum an diesem Abschnitt hatte sich entschlossen den Elbe-Deich aufgeben. Linkselbig wäre das auch nicht so schlimm geworden, auf der dem Land Brandenburg zugewandten Seite jedoch hätte es den Verlust von Dautzschen und Großtreben bedeutet. Die Freiwillige Feuerwehr des kleinen Dorfes war dies nicht bereit hinzunehmen und  suchte verzweifelt Kräfte. Leipzig hilft! lies sich nicht lange bitten und so startete bereits um 4 Uhr eine lange Kolonne Fahrzeuge. Mit Polizeieskorte, die Gulaschkanone im Gepäck setzten sich 48 Leute, komplett ausgerüstet, in einem Dutzend Fahrzeugen in Bewegung. Schnell wurde noch ein Zelt für die Koordinierung organisiert, mitten in den Wald gestellt und losgelegt. Der 1. Damm brach erwartungsgemäß, doch nun kämpften 30 Feuerwehrleute, 48 Leipziger und 150 Einwohner am Deich des alten Elbearms gemeinsam um die Rettung des Ortes. Alle Arten Transporter, alte Trabis, Traktoren, jede Art von Anhänger kamen zum Einsatz um Sandsäcke an Ort und Stelle zu schaffen. Wer erschöpft war, fand im Zelt die Gelegenheit für eine kurze Pause. „Wasserträger“ liefen Stunde um Stunde vom Depot bis zum Ende des Deiches und brachten viele Kilometer hinter sich. Später am Tag kam Hilfe von den Jägern, Versorgungseinheiten und Panzerpionieren der Deutsch-Französischen Brigade. Und während tagsüber ein Unwetter Deutzschen passierte, stand gegen 20 Uhr, im Schein der Abendsonne fest, es ist geschafft, der Deich stabilisiert, der Ort gerettet.  

 

Sonntag, 9. Juni

Diesmal fuhr man noch ein Stück weiter die Elbe aufwärts bis nach Meißen. Ab Vormittag wurde die gesperrte Altstadt wieder freigegeben und THW, Bundeswehr, Feuerwehren, Heilsarmee und Leipzig hilft! machten sich ans Säubern, Aufräumen, Entrümpeln. Die 60 Mitgereisten teilten sich in kleine Trupps auf und arbeiteten in Häusern, Geschäften, dem Altenheim des Ortes. Die Verantwortung lastete schwer auf den Köpfen der Initiative, denn es war ein ungewohntes Gefühl, so viele Menschen zu koordinieren, die Verantwortung zu tragen. Eindringliche Momente spielten sich ab, als Starkregen auf die Elbbrücke prasselt und erschöpfte Helfer dankbar nach heißer Tomatensuppe und dampfenden Nudeln greifen. Nach Stunden finden nun auch die „Helden von nebenan“ kurze Momente der Ruhe, können bei warmem Essen langsam runterfahren. Viele beschrieben mir diesen Tag, als das Ausmaß der Schäden klar sichtbar wird, man einst schöne, doch nun verschlammte, zerstörte, verwüstete Räume betritt, als sehr emotionales, intensives Erlebnis.

 

Und weiter..!?

Wer mittendrin war kann nicht einfach aufhören. Weil man es hier genauso sieht, steht die nächste Aktion bereits fest. Eine große Party soll es werden, ein Benefizkonzert, finanziert durch Crowdfounding, dessen Einnahmen Schwerstbetroffenen zu Gute kommen werden. Vor Ort darf nicht nur gefeiert, getanzt, „genetzwerkt“ werden, auch Spenden sind davor, dabei, danach gern gesehen. Wann das Ganze stattfindet? Am Samstag, den 6. Juli am Mittag am kleinen Silbersee, einem der schönsten Erholungsparks Leipzigs. Wir sehen uns doch dort, oder?

 

Abschließend

All dies wäre wohl ohne die Nutzung moderner Medien zwar möglich, aber deutlich erschwert gewesen. Und so ist es bezeichnend, dass sich bei Leipzig hilft! viele junge Leute aus der Kreativ- oder schwarzen Szene zusammengefunden haben, für die der Umgang mit sozialen Medien, aber auch das Stemmen gemeinsamer Projekte nichts Unbekanntes ist. Ich war beeindruckt von der Ausgeglichenheit und auch der Selbstlosigkeit meiner Gesprächspartner. Beispielsweise saß mir eine junge Frau gegenüber, die 6 Tage Ihr Kind nicht gesehen hatte, weil Sie sich für andere stark machte. Andere nahmen Ihren Jahresurlaub um anpacken zu können. Auch wenn Sie selbst nicht so bezeichnet und namentlich nicht genannt werden möchten, so sind sie alle in meinen Augen dennoch die „Helden von nebenan“.


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