Einen Tag lang unsterblich sein

18. Dezember 2014, 17:00 Uhr,

Mit besinnlichen Gedanken lassen wir das Jahr ausklingen. Mathias schreibt über die Muße und darüber, ob man sich noch genügend Zeit dafür nimmt. Viel Spaß beim Lesen.


Einen Tag lang unsterblich sein

Die Weihnachtszeit steht vor der Tür. Für viele ist es die offizielle Zeit der Einkehr. Man hat frei, kann sich treiben lassen, mit Vertrauten treffen und Dinge tun, für die man sonst zu wenig Muße hat. Raus geht es aus dem Tempo-Dasein, die Vorfreude ist überall zu spüren. Doch warum beschränken wir eine solche Entschleunigung auf die Feiertage? Ein Plädoyer für mehr Zeit und Ruhe.

Der deutsche Kabarettist Gerhard Polt nannte es „Herumschildkröteln“, die Punkband „Fehlfarben“ feierte den Ausbruch aus der Leistungswelt mit folgendem Refrain: „Wir warten, wir warten / ihr habt die Uhr / wir die Zeit.“ Will man noch weiter in die Vergangenheit reisen, dann könnte man beim griechischen Philosophen Platon nachfragen. Für ihn war die Freiheit von öffentlichen und privaten Geschäften die zentrale Voraussetzung, um überhaupt über etwas nachdenken zu können. Und nicht nur das: Muße, nicht zu verwechseln mit Faulheit, war für Platon auch die Bedingung für das Glück.

Weggabelungen: Was muss eigentlich wirklich auf die To-Do-Liste?

Heute ist unser Denken größtenteils ein anderes. In der christlich-abendländischen Tradition hat sich ein vielfältiger Arbeitsbegriff entfaltet und die Bedeutung des Müßigganges überschattet. In der Bibel steht: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ Geistliche erklärten im Mittelalter die Faulheit zur Todsünde. Auch für die Aufklärer im 18. Jahrhundert galt nicht mehr die Muße als Ausdruck von Freiheit und Selbstverwirklichung, sondern diejenigen menschlichen Tätigkeiten, die sich die Welt zu eigen machen. Dass Nachdenken über die wahre Natur des Menschen kam bei Kant, Hegel oder auch bei Marx nicht mehr ohne den Begriff der Arbeit aus. In der „Internationale“ singen Parteigänger der Arbeiterbewegung: „Müßiggänger schiebt beiseite!“ Genau in dieser Kultur, genau in dieser grobmaschigen Mentalitätsstruktur leben wir auch heute noch: Wer nicht leistungsbereit ist, gilt schnell als dekadent, arbeitsscheu und asozial.

Auf der anderen Seite schießen individuelle Burnout-Programme oder Psychotherapien wie Pilze aus dem Boden. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet heute Stress als eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts, die Techniker Krankenkasse hat in ihrer großangelegten Studie zur Stresslage der Nation 2013 festgestellt, dass 65 Prozent der 1000 repräsentativ Befragten „ein zu hohes Arbeitstempo“ empfinden. Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, die allzu kitschigen Versprechen an den Plakatwänden der Reisebüros, modernes Hamsterrad, der mitunter verkrampfe Versuch mit Alkohol und Drogen „herunterzukommen“, digitale Überreizung, Gewinn- und Anerkennungsmaximierung, Heroisierung der „Macher des Alltags“ und das Wissen, dass sich im Blicklicht von Ruhe und Gelassenheit viele Probleme klären lassen: Das sind Zusammenhänge, die wohl jeder kennt.

Kochen, Backen, Basteln: Auch mit Freunden ein Genuss

Im Englischen gibt es den Begriff „Default Mode Network“, er bezeichnet eine Gruppe von Hirnregionen, die erst im Zustand der Muße aktiv werden und beispielsweise für ein zielloses Schweifen der Gedanken sorgen. Geistige Verarbeitung also, keine mediale Berieselung: Das brauchen wir wie Essen, Schlafen und Luftholen. Bei vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen gibt es auch Veränderung dieser „Default Mode Network“. Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, das unser Körper für all die Termine und To-do-Listen einen Preis zahlt.

Der bis 2014 an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig lehrende Professor Christoph Türcke hat in seinem neuen Buch „Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ auf die heutige „mikroelektronische Reizkultur“ hingewiesen. Für Türcke sind wir einem ständigen Trommelfeuer von Eindrücken ausgesetzt und wir alle leiden daher an „wachsender Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit“. Selbst, wenn Türcke hierbei überspitzen sollte, ist es klar, dass im Zuge unserer Digitalisierung die fundamentalen Lern – und Bildungsbedingungen einem gravierenden Wandel unterzogen sind. Sind sie unserem Geiste aber immer zuträglich?

Spaziergänge in der Natur können so manche „Work-Life-Balance“ - Strategie unnütz machen

So gibt es mittlerweile an der Universität Freiburg den Sonderforschungsbereich „Muße“. Basierend auf der Diagnose, dass in der Finanzwelt, im Verkehr, im Handel und in den Bereichen Medien, Wissen und Kommunikation eine rasante Beschleunigung zu finden ist, untersuchen hier Soziologen, Philosophen, Psychologen und Ethnologen die Kulturgeschichte des Müßigganges. Man ist sich einig, dass man Arbeit allein nicht mehr nur durch äußere Effizienz definieren kann. Arbeit und Muße sollen, vor allem auch ernst einmal in unseren Begrifflichkeiten, kein Gegensatz mehr sein. Alle Bemühungen, die sich um den Begriff „Work-Life-Balance“ drehen, werden hierbei als das erkannt, was sie sind: Nur noch mehr Stress!

Man glaubt es manchmal kaum, aber die analoge Welt ist auch noch da

Es sind heute gerade solche Forschungsbereiche, die für ein neues subjektgemäßeres Denken einstehen, denn knietief wurzeln unsere Überzeugungen in der christlichen Arbeitsmoral. Sind wir nicht immer auf dem Sprung? Lockt nicht ständig ein neuer Arbeits- oder Studienplatz? Schauen wir nicht laufend auf den nächsten Karriereschritt? Müssen wir nicht noch unbedingt da und dort hin? Sind Coffee-to-go-Becher nicht schon zum positiven Lebensgefühl umgedeutet worden? Wird nicht schon in der Popkultur ein Leben zwischen Ausprobieren, Praktika, Scheitern und Neustart als hipper Livestyle verkauft? Werden wir nicht tagtäglich mit Informationen über die Finanzkrise, über eine neue Terrorgefahr, über den Klimawandel und über den Schutz der Privatssphäre gefüttert? Wollen wir bei diesen bedeutenden Belangen nicht immer mitreden, uns ein Urteil erlauben? Und haben wir überhaupt Zeit, um darüber nachzudenken?

Müßiggang ist nicht mit Faulheit zu verwechseln

In Klagenfurt hat sich 1990 ein „Verein zur Verzögerung der Zeit“ gegründet. Hält man heute ein Plädoyer für mehr Zeit und Muße, gilt man schon lange nicht mehr als antiquierter Langweiler. Zu eindeutig laufen wir zu oft einfach nur im Hamsterrad, unser Körper meldet sich bei Stress immer noch einigermaßen zuverlässig. Vielleicht sollten wir ihm öfter zuvorkommen. Im Dienste dessen folgt abschließend ein kleines Gedankenexperiment: Wenn man am Ende des Tages, des Monats, des Jahres, oder auch am Abend des Lebens, Bilanz ziehen müsste: Welche Dinge stünden dann auf der To-Do-Liste? Und wie viele eigentlich nicht? Wo können wir bei uns im Alltag die Hebel ansetzen? Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das nicht unerwähnt bleiben soll:

„Einen Tag ungestört in Muße zu verleben heißt, einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein.“


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